Sonntagszeitung, Zürich, 11. Dezember
1994
"WIE EINER DER GROSSEN MEISTER DER RENAISSANCE"
DER ÖSTERREICHISCHE MALER UND FOTOGRAF MACHT SICH FÜR DIE ANERKENNUNG
DER DISNEYSCHEN SCHÖPFUNG
ALS KUNST STARK
Helnwein, 46, ein Meister der Provokation, hält Walt Disney für
so bedeutend wie Leonardo da Vinci und Rembrand.
von Roger Anderegg
SZ: Herr Helnwein, was hat dieses Jahrhundert Walt Disney zu verdanken?
HELNWEIN: Walt Disney hat völlig neue Medien entwickelt, den Comic-strip,
wie wir ihn heute kennen, den Zeichentrickfilm, eine neue Sprache - insgesamt
eine völlig neue Kunstform dieses Jahrhunderts, so wie Leonardo da Vinci
oder Rembrandt ihr Jahrhungert prägten
SZ: Leonardo, Rembrandt und Disney in einem Atemzug - das ist wohl eine Helnweinsche
Provokation?
HELNWEIN: Überhaupt nicht! Disney hat ja genauso gearbeitet wie die grossen
Meister der Renaissance, nach dem Werkstattprinzip, wo also der Meister, eine
Art Universalgenie, neue Welten, Universen erschafft, die dann von einem Heer
von Künstlern realisiert werden.
SZ: Die Bedeutung von Walt Disney als Universalgenie blieb uns bisher verborgen.
HELNWEIN: Dass grosse Neuerungen zur Zeit ihrer Entstehung verkannt werden,
war in der Kunstgeschichte immer so. Trotzdem haben ja inzwischen viele Menschen
die Bedeutung von Disney erkannt. Sie strömen in Massen in Disney-Filme
und konsumieren zu Millionen die Comics.
SZ: Deshalb wird das alles auch längst industriell hergestellt.
HELNWEIN: Was stört Sie daran? Auch in den Werkstätten der Renaissance
wurde industriell gefertigt. Rembrandt und Rubens zum Beispiel haben viele Künstler
ausgebildet, damit sie exakt in ihrem Stil und nach ihrem Standart arbeiten,
Viele Bilder die ihnen heute zugeschrieben werden, haben sie gar nicht gemalt
- die haben ihre Leute gemalt - sie haben nur signiert.
SZ: Der Künstler ist doch ein Individualiist, ein Einzelgänger.
HELNWEIN: Nicht zu allen Zeiten! Geschichtlich gesehen wurde Kunst die meiste
Zeit industriell gefertigt. Denken Sie an die Ägyptische Kunst mit all
diesen Wandmalereien und Reliefs oder an die beeindruckenden Bauwerke des alten
Rom!
SZ: Aber Kunst als kreative individuelle Äusserung...
HELNWEIN: Oder nehmen Sie Andy Warhol, der ganz bewusst den Begriff der "Art
Factory" geprägt hat, der "Kunstfabrik". Obwohl ich die Bedeutung
Warhols nicht schmälern möchte - die wirkliche Kunstfabrik dieses Jahrhunderts
hat Walt Disney gegründet.
SZ: Seine Kunst kommt vom Fliessband.
HELNWEIN: Die Künstler haben immer nach Möglichkeiiten gesucht, ihre
Werke zu vervielfältigen: als Holzschnitt, Kupferstich, Radierung, Lithografie
und so weiter. Sie haben sich dazu immer der jeweils modernsten techniechen Mittel
bedient. Und das 20ste Jahrhundert hat eben einem Genie wie Walt Disney das Werkzeug
in die Hand gegeben, um über alle Grenzen hinweg arbeiten zu können
und seine Schöpfungen räumlich zu bewegen. Disney hat den jahrhunderte
alten Traum aller Künstler verweirklicht und erstmals eine Kunstfigur
geschaffen, die tanzen, singen und reden kann.
SZ: Jetzt tanzen seine Figuren stromlinienförmig und absichtslos durchs
Jahrhundert.
HELNWEIN: Aber das ist doch typiisch für die Zeit! Das ist doch der Zeitgeist!
SZ: Aber es ist eine angepasste Kunst. Sollte Kunst nicht im Widerstreit sein
mit der vorherrschenden Meinung?
HELNWEIN: Nicht nur und nicht immer. Die christliche Kunst war auch über
zwietausend Jahre lang nicht im Widerstand zum Zeitgeist.
SZ: Sehen Sie in Disneys Kunst eine Entwicklung?
HELNWEIN: Aber sicher! Sie müssen nur die frühen Disney-Filme mit
den heutigen vergleichen.
SZ: Die haben sich technisch weiterentwickelt. Gibt es aber auch neue Inhalte?
HELNWEIN: Die Kunst hat stets die gleichen Inhalte, ob es sich um ein Drama
von Shakespeare handelt oder um einen Hollywoodfilm - es geht immer um die
gleichen Anliegen, um einen Helden und einen Schurken, um den Kampf zwischen
Gut und Böse,
um Liebe und Leid.
SZ: Auch in Entenhausen ...
HELNWEIN: Kunst muss die Menschen berühren können. Und wenn ihr das
mit einer neuen zeitgemässen Form gelingt, wird sie zur grossen Kunst. Deshalb
sind für mich Picasso und Walt Disney die beiden bedeutendsten Figuren
in der bildenden Kunst des 20sten Jahrhunderts.
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